aus der WAZ vom 21.11.2013
12 Stunden durchgetaktet – der Alltag der Turbo-Abi-Schüler
Essen. 36 Schulstunden, verteilt auf fünf Tage: Allein der Stundenplan der Schülerin Carolin Sahlmann kann als „vollzeitnah“ bezeichnet werden. Hinzu kommen Hausaufgaben und Sport. „Zeit für Freunde bleibt da nicht mehr“, sagt die 14-jährige auf dem Weg zum Turbo-Abi. Und: Den Mitschülern geht es auch nicht besser.
Mal eben Schüler in die Redaktion einzuladen – das ist gar nicht so einfach. Längst dehnt sich der Unterricht bis zum Nachmittag aus, es folgen Hausaufgaben, Hobbys, lernen mit den Eltern, lernen mit den Klassenkameraden, oft genug auch Nachhilfe. Trotzdem kommt die Essener Schülerin Carolin Sahlmann spontan vorbei, um von ihrer Arbeitsbelastung zu berichten.
Es ist der ausgefallene Nachmittagsunterricht, der der 14-Jährigen ein unvorhergesehenes Zeitfenster eröffnet. „Klar ist Schule ein Vollzeitjob“, sagt die Schülerin des Essener B.M.V.-Gymnasiums unbekümmert. Ein Blick in ihren Tagesablauf zeigt: Es ist wohl viel mehr als das.
Carolin ist G8-Schülerin, derzeit in Klasse neun – eine Jahrgangsstufe, in der schlicht alle Fächer unterrichtet werden. Nicht Geschichte oder Politik, sondern Geschichte und Politik. Nicht Physik oder Chemie, sondern Physik und Chemie. Dazu Deutsch, Mathe, Erdkunde, Biologie, die zwei Fremdsprachen, das Wahlpflichtfach (oft die dritte Fremdsprache), Sport, Religion, Kunst oder Musik.
Anders gesagt: Es sind 36 reine Schulstunden , die sich auf die fünf Wochentage verteilen. Der klassische Sechs-Stunden-Tag reicht da längst nicht mehr aus, und weil auch der Schulrucksack den vielen Fächern nicht gewachsen ist, hat die Schule zu Beginn dieses Schuljahrs die 45-Minuten-Stunde abgeschafft und durch 67,5-Minuten-Stunden ersetzt.
Von diesen extra langen Stunden hat Carolin immer noch 24, und das bedeutet zwei Mal pro Woche Unterricht bis 16.20 Uhr, drei mal bis 13.20 Uhr. Hinzu kommen täglich die Hausaufgaben, die Referate („Krieg in Syrien für Politik, Buddhismus und Hinduismus für Religion“), sowie sonstiges Üben für Klassenarbeiten und die wöchentlichen Vokabeltests. „Jeder Lehrer sagt, ,das ist nicht viel, das schafft ihr in 20 Minuten’. Doch es sind einfach so viele Fächer.“
„Andere lernen mehr“
Macht das dann doch zwei Stunden aus oder drei? Erledigt sie alles am Nachmittag oder am Abend? Carolin zuckt die Schultern, lacht, „auf jeden Fall so schnell wie möglich“, sagt sie. Denn die 14-Jährige ist Leistungssportlerin, sie rudert vier Mal pro Woche auf dem Baldeneysee, will bei den deutschen Meisterschaften mitmachen und rechnet sich sogar gute Chancen aus für einen Spitzenplatz. „Das ist mir extrem wichtig.“ Mitunter auch wichtiger als die Schule? „Andere lernen mehr“, gibt sie zu. Doch dass ihre Mutter nach dem Training gegen 20 Uhr noch Vokabeln abhört – „auch das ist normal“.
Überhaupt die Mutter. Ohne Gitta Sahlmann läuft wenig in Carolins Leben. Denn die Beamtin setzt auf ihrem Weg zum Dienst im Essener Tiefbauamt Carolin und ihre ältere Schwester an der Schule ab, an den langen Unterrichtstagen holt sie die Mädchen auch wieder ab.
Wenn sie nicht obendrein die fast tägliche Fahrt von der Wohnung in Schonnebeck bis zum Baldeneysee und zurück übernehmen würde, „könnte ich nicht mehr trainieren“, sagt Carolin, streicht ihre langen Haare aus dem Gesicht und lacht wieder breit. „Für meine Mutter ist das schon purer Stress.“
Alles dreht sich um die guten Noten
So geht das also, Schule, Training, lernen, zwölf Stunden täglich durchgetaktet. „Ich habe Freunde beim Rudern, die treffe ich ja jeden Tag und das gefällt mir“, sagt sie und wird dann doch ernst. Mit Tennis habe sie leider aufhören müssen. Und gerne würde sie sich öfter mit Freunden treffen, einfach so.
Dass die Mitschülerinnen mehr Zeit haben, „glaube ich nicht“, sagt Carolin. Viele spielten Hockey oder ein Instrument. „Und lernen einfach verdammt viel.“ Denn gute Noten seien in der Klasse „irgendwie total wichtig“. Auch wenn es ihr nicht um die Einsen gehe: „Ich muss mein Niveau halten. Denn wer in der Schule absackt, muss mit dem Sport aufhören.“
Birgitta Stauber-Klein